Fragment 1 - Über kritische Eisbären (4)
- Nemesus
- 15. Juli 2024
- 2 Min. Lesezeit
Januar 1961, Idaho Falls. Ein militärisch genutzter Siedewasserreaktor wird für einige
Millisekunden überkritisch. Der Druck des stark erhitzten Wassers lässt Kleinteile des
Rohrsystems wie Geschosse durch das Gebäude schnellen und katapultiert den zwölf Tonnen schweren Reaktordeckel an die mehrere Meter entfernte Raumdecke. Beim Zurückfallen werden die aus den Fugen geratenen Steuerstäbe vollständig reintegriert, der Reaktor wieder geschlossen und die bevorstehende Kernschmelze so verhindert. Drei junge Soldaten, die zu diesem Zeitpunkt Wartungsarbeiten verrichten, finden den Tod. Einer von ihnen wird von einer umherfliegenden Hülse getroffen, gepfählt und an die Decke genagelt. Zwei Wochen später können die leblosen Körper aus dem kontaminierten Bereich geborgen werden, enthalten jedoch so viele Metallsplitter, dass sie selbst unbekleidet noch mit fünf Sievert pro Stunde strahlen.
Oktober 2012, Berlin. Dreihundert Menschen legen bei der Einweihung des Denkmals „Der
Träumer“ rote Rosen nieder. Es handelt sich um die 140 Zentimeter hohe und 15.000 Euro teure Bronze-Statue des kürzlich verendeten Eisbären Knut. Neben „Der Träumer“ befinden sich zu diesem Zeitpunkt noch zwei weitere Tier-Plastiken im zoologischen Garten, die von Nilpferd Knautschke und dem Gorillababy Bobby.
Juni 2022, mentale Ebene. Das Wort >>Verlies<< beschreibt meist Kerker, die sich in fensterlosen Kellerräumen befinden, ursprünglich aus dem Niederländischen für Verlust, früher auch >>sich verlieren<< oder >>für andere unsichtbar werden<<.
N. lag auf dem Bett seines Kellers und sinnierte über kerntechnische Unfälle, Eisbär-Gedenkfeiern und Verliese. Irgendwann richtete er sich auf, als wäre er aus einer Trance erwacht, legte für einen Moment sein Tablet aus den Händen und trank den Rest seines mittlerweile erkalteten Tees. Wie viel Zeit war vergangen? Die Leuchtelemente emittierten noch immer blaues Licht, und auch die Musik von Pink Floyd spielte weiterhin in einer Endlosschleife. Doch die mit Nikotin und Weihrauch angereicherte Luft war in den letzten Stunden, ohne, dass es ihm aufgefallen wäre, milchiger geworden. - Diffuses Tscherenkow-Blau im Nebel.
„Wie spät ist es?“, fragte N.
„Es ist 06:49.“, antwortete der Raum.
N. ließ seinen Oberkörper zurück auf das Bett fallen und griff erneut nach seinem Pad. Vielleicht hätten ihn die wenigen Sätze, die er in dieser Nacht zu Papier brachte, alarmieren sollen, aber Routinen machen achtlos. - Und die Routine, Nächte damit zu verbringen, die richtigen Worte zu suchen, ohne sie zu finden, hatte er in den letzten Jahren erfolgreich etabliert. - Er war in eine Falle geraten. - Verstrickt im Labyrinth seiner eigenen Gedanken. - Doch etwas hatte sich geändert. Hatte er den Ausweg, nachdem er so lange suchte, tatsächlich gefunden?
N. öffnete sein Tagebuch und schrieb: „Es gibt viele Ebenen von Tragik. - Und vielleicht sollte es irgendwann eine emotionale Richter-Skala geben, die Menschen hilft, ihre Erfahrungen besser einzuordnen. - Kerntechnische Unfälle sind mächtig genug, mich zu erschüttern, selbst wenn mir die verwickelten Personen nicht bekannt sind und ich zum Zeitpunkt des Unfalls noch nicht gelebt habe. Persönliche Schicksale sind häufiger und können ebenso mächtig sein. - Man bekommt sie nur seltener mit. Meldungen hingegen von Menschen mit Rosen an Eisbär-Denkmälern, scheinen geeignet, den emotionalen und geistigen Verfall einer Masse von völlig verstrahlten Menschen aufzuzeigen, die entweder nie gelebt haben oder es im Laufe der Zeit verlernten. - Auch eine Tragödie, wenngleich über Umwege.“
N. schloss sein Tagebuch und machte sich auf, den Keller zu verlassen.
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