Kapitel 3 - Vernetzte Einsamkeit, getrenntes Bewusstsein (2)
- Nemesus
- 15. Juli 2024
- 4 Min. Lesezeit
Ich kann nicht abschätzen, wann du auf dieses Video stoßen wirst. Suchmaschinen und soziale Medien selektieren die Art der Beiträge vor, die sie dir anzeigen. Wir alle sind nicht nur in unseren individuellen Realitätstunneln, sondern auch in unseren eigenen Filterblasen und Echokammern gefangen. Und häufig sind es nicht die relevantesten oder komplexesten Themen, sondern die einfachsten, die den Weg zu dir finden. Je mehr Zeit du auf diesen Plattformen verbringst, desto erfolgreicher arbeitet der Algorithmus – zumindest aus der Perspektive der Konzerne.
Die Veröffentlichung dieser Video-Reihe erfolgt im Frühling 2024, knapp anderthalb Jahre nach dem globalen Durchbruch von Chat-GPT. Zum aktuellen Zeitpunkt sollten die Möglichkeiten von KI-Systemen ausreichend ins öffentliche Bewusstsein vorgedrungen sein, um eine Diskussion über eine Community der Zukunft überhaupt erst zu beginnen.
Unsere Weltbevölkerung liegt bei über acht Milliarden Menschen, über fünf davon haben Zugang zum Internet. Etwa 500 Städte auf dem Planeten haben mehr als eine Million Einwohner. Der Siegeszug der KI setzt sich in immer mehr Bereichen mit atemberaubender Geschwindigkeit weltweit fort. So kündigte YouTube noch Anfang 2023 Multi-Language-Audio-Support an, die Möglichkeit, Videos mit Tonspuren in mehreren Sprachen hochzuladen. Das hätte jedoch das Anfertigen solcher Tonspuren vorausgesetzt und somit einen erheblichen Mehraufwand bedeutet. Gegen Mitte des selben Jahres wurde bekannt, dass YouTube sein KI-gestütztes Dubbing-Feature testet, welches die Stimme des Creators klont, die Inhalte automatisch in über ein Dutzend Sprachen übersetzt und die jeweiligen Tonspuren mit den Lippenbewegungen im Video synchronisiert.
Die Entstehung neuer Wertemuster über daraus resultierende Einstellungsänderungen bis hin zu Verhaltensanpassungen ist ein langwieriger Prozess. Diese Phasen finden im Menschen nicht nur zeitlich versetzt statt, sie spielen sich darüber hinaus auch noch zu einem Großteil unbewusst ab, was es noch anspruchsvoller macht, sich dem Thema zu nähern. Während ich die positiven Aspekte des Jahres betonte, habe ich bewusst die Schattenseiten ausgelassen. Es ist wichtig, nicht nur darauf zu achten, was in Texten steht, sondern auch darauf, was fehlt, und sich zu fragen, warum das so ist. Kognitive Dissonanz, ein manchmal subtil spürbares Unbehagen, entsteht, wenn bewertete, mentale Ereignisse Konflikte verursachen. In diesem Fall kollidierte die schöne neue Welt, die ich skizzierte, möglicherweise mit deinen tief verwurzelten Überzeugungen, die bereits fest in dir verankert sind.
So mag das Wort 'Sommer' für dich und mich zunächst positive Assoziationen wecken. Dennoch wissen wir beide, dass der Juli 2023 global gesehen der heißeste Monat seit Beginn der Aufzeichnungen war. Die reine technische Machbarkeit, etwa einer zukünftigen Community, garantiert noch nicht ihre tatsächliche Umsetzung. Von acht Milliarden Menschen haben zwar fünf Milliarden Zugang zum Internet, doch drei Milliarden bleiben bisher davon ausgeschlossen. Ein erheblicher Teil der Menschheit wird, sofern er überhaupt online gehen kann, nur eine zensierte Version des Internets vorfinden.
Die Zunahme der Vernetzungsdichte im virtuellen wie auch im physischen, urbanen Raum, hat unsere Einsamkeit nicht reduziert. Tatsächlich nimmt sie weltweit zu. Was YouTube anbelangt: Die großen Neuerungen werden zunächst an die erfolgreichsten Influencer ausgerollt. Es könnte Jahre dauern, bis sie allen Youtube-Creatoren zur Verfügung stehen – falls sie überhaupt jemals umgesetzt werden. Im schlechtesten Fall könnte dies nicht nur zu einer Reduktion der ohnehin schon geringen Diversität an Beiträgen führen, sondern auch das Auffinden gehaltvollerer Inhalte neuer Youtube-Creator zusätzlich erschweren. Insgesamt erscheinen mir Zweifel durchaus angebracht, ob es tatsächlich das Leben der ärmsten Individuen des Planeten bereichert, wenn sie in Zukunft die Videos über Spezifikationen von Luxus-Yachten, Villen und Traum-Autos nun auch in ihrer Muttersprache abrufen können.
Und wenn wir schon dabei sind: Während wir uns weniger darüber sorgen sollten, dass KIs uns vermeintlich die Arbeitsplätze wegnehmen, stehen wir einem viel gewaltigeren Problem gegenüber: Einem veralteten Urheberrechtssystem, welches KI und Wissenschaftler daran hindert, weltweit Zugriff auf wissenschaftliche Papers zu nehmen, um zum Wohl der Menschheit beizutragen. Solange wir keinen neuen Weg finden, Künstler, Wissenschaftler, Designer und Ingenieure angemessen zu entlohnen, bleibt die Vision eines semantischen, globalen Netzes reine Fiktion.
Um noch einmal auf die kognitive Dissonanz zurückzukommen: Sie könnte ein nutzbringendes Warnsignal sein. Der Schmerz, den du empfindest, wenn du eine heiße Herdplatte berührst, ist unangenehm, hilft dir jedoch die Hand wegzuziehen, um dich vor größerem Schaden zu bewahren. Es wäre also eher beunruhigend, bliebe eine solche Warnung aus.
Die spannende Frage lautet: Bist du stark genug, die innere Spannung auszuhalten? Kultur entsteht durch einen iterativen Prozess und baut folglich auf unserer Geschichte auf. Da die Psychologie erst vor etwa 150 Jahren als universitäre Disziplin eingeführt wurde, während unsere Kulturen schon vor Jahrtausenden entstanden, sollte es uns nicht überraschen, dass diese Kulturen gelegentlich mit der menschlichen Natur in Konflikt geraten. Neue Erkenntnisse werden zwar mit der Zeit in die Kultur integriert, doch dieser Prozess kann Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte, in manchen Fällen sogar Jahrtausende, in Anspruch nehmen. Daher leben wir heute alle weit hinter unseren Möglichkeiten.
In meinen Augen wäre es definitiv besser, die Außenwelt der eigenen Natur anzupassen, als unbewusst Wertvorstellungen, Einstellungen und Verhaltensweisen zu verwerfen, nur um das wohlige, aber in diesem Fall trügerische Gefühl der Konsistenz zurückzugewinnen. - Schließlich bestünde der Grund für das Verdrängen im zweiten Fall weiterhin. Ein irreversibel entzündeter oder bereits abgestorbener Zahn verursacht Schmerzen. Bleibt die Wurzelkanalbehandlung aus, kann es zu einer Blutvergiftung und damit zum Tod kommen. Möchtest du lieber Symptome mit ständiger Schmerzmitteleinnahme behandeln oder nimmst du die Strapazen einer Wurzelkanalbehandlung auf dich?
Überlege es dir gut. - Nicht alle fragwürdigen Entscheidungen müssen drastisch enden. Es gibt viele Menschen, die bereit sind, ihre eigenen Erinnerungen bei Seite zu schieben, um einen Verlust aus der Vergangenheit weniger zu fühlen. Und manchmal scheint es, als würden sie besser damit fahren als die Menschen, die sich diesem Handeln verweigern. Ich wäre dennoch nicht bereit, Teile meines Lebens zu ignorieren und so zu tun, als hätte ich Alzheimer, nur um mich vermeintlich wohler zu fühlen. Es würde nicht den Menschen gerecht werden, die mich in der Vergangenheit begleitet haben. Es würde nicht der Kostbarkeit des Lebens selbst gerecht werden. Aber vor allem würde es auch nicht mir und den Menschen meiner Gegenwart und Zukunft gerecht werden. Entscheidungen basieren auf unseren Erfahrungen. Wenn wir keinen Zugriff auf einen Teil unserer Erfahrungen haben, können wir diesen Teil auch nicht berücksichtigen. - Deine Wahl.
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